Überraschend öffnet die Deutsche Demokratische Republik am Abend des 9. November 1989 die Berliner Mauer, die sie 28 Jahre zuvor errichtet hat, um die Abwanderung ihrer Bürgerinnen und Bürger in den Westen zu stoppen. Der Fall des «antifaschistischen Schutzwalls», wie der sozialistische Staat das Bauwerk genannt hat, markiert aus heutiger Sicht eindeutig eine Zeitenwende: den Untergang der DDR, das Ende des «real existierenden Sozialismus», den Zerfall des Ostblocks, den Ausklang des kurzen 20. Jahrhunderts.
Die Zeitgenossen deuteten das Ereignis ambivalent. Der Korrespondent der Schweizer Tagesschau, der am Abend des 10. November in gelöster Stimmung in die Schweizer Stuben spricht, konstatiert zwar einen «historischen Augenblick», betont aber gleichzeitig, die vielen «Trabis» - der Trabant war in der DDR das am meisten verbreitete Auto - seien nur auf eine Spritztour in den Westen unterwegs, kehrten also wieder um. Auch der sichtlich gerührte Schriftsteller Stefan Heym, den der Reporter in der Menge zufällig trifft, stellt die mögliche, erhoffte Kontinuität über den Bruch: Die Maueröffnung sei ein wichtiger und grosser Schritt für die DDR. «Ich hoffe, dass dieser Staat bleibt, dass wir hier etwas Neues bauen können, einen sauberen, anständigen Sozialismus, der gut ist für alle Menschen - und auch für den Westen.» Angesprochen auf eine mögliche «Wiedervereinigung» meint Heym, das sei schwierig zu beurteilen, aber sicher würde nun zwischen den Bevölkerungen der beiden Staaten Gemeinsames entstehen.
Inzwischen ist die DDR fast spurlos in der Bundesrepublik aufgegangen. Doch die Zeitgenossen waren nicht einfach naiv, weil sie die historische Entwicklung nicht vorhersahen. Im Nachhinein erweckt diese oft den Anschein der Zwangsläufigkeit. Aber es hätte auch anders kommen können.
Autor: Urs Hafner
