Zensurierter Riese

Künstler und Wissenschaftler wollen an der «Expo 64» eine grosse Umfrage durchführen. Dem Bund ist das demoskopische Experiment zu brisant: Er zensuriert es. Darauf macht die Presse den Fall publik.

Lüpfig die Musik, lustig die Bilder: Launig berichtet die Schweizer Filmwochenschau vom letzten Tag der «Expo 64», die heute vor fünfzig Jahren zu Ende ging (am 25. Oktober 1964). Zitiert wird aus Bundesrats Schaffners Schlussrede, der der Landesschau attestiert, sie werde in die Geschichte eingehen und zum geistigen Erbgut künftiger Generationen gehören. Im Nachhinein mutet die Aussage etwas vollmundig an. Immerhin sind einige der vom Film ins Bild gerückten Sujets noch immer im kollektiven Gedächtnis präsent, so Tinguelys Plastik «Heureka» oder das Flaggenmeer der Gemeindewappen. Vergessen aber ist der Riese «Gulliver», der die Besucher aufforderte, einen Fragebogen auszufüllen. Von ihm könnten sich die Besucher noch einmal sagen lassen, wir Schweizer seien ein Mustervolk, merkt der Film lakonisch an.

Um «Gulliver» entbrannte zu Beginn der Expo ein Skandal. Nachdem der Leiter des «Gulliver»-Experiments an die Presse gegangen war, prangerte diese die behördliche Zensur an. Eigentlich hätte «Gulliver», der nach Jonathan Swifts satirischem Roman «Gullivers Reisen» von 1726 benannt war, ein subversiver Skeptiker sein sollen, der das herrschende Schweiz-Bild in Frage gestellt und Widersprüche aufgedeckt hätte, wie der Historiker Koni Weber in seiner Dissertation zeigt. Die Antworten der Besucher hätten noch während der Expo von einem Computer ausgewertet und öffentlich gemacht werden sollen. Doch der Bundesrat verbot Fragen zu Abtreibung, Dienstverweigerung und Neutralität, und er verhinderte, dass das Volk auf demoskopischem Weg seinen Willen kund tat. «Gulliver» mutierte laut Weber zum «harmlosen Quizmaster, der Wissen abfragte». Dieses Bild des «Gulliver» gibt der Film wieder. Damit spielt er auf den Skandal an. Explizit wurde er nicht.

Autor: Urs Hafner

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