Problematischer Umgang mit der nicht sesshaften Bevölkerung

Für die «Sozialreformer» war das «Vagabundieren» aus moralischen und ökonomischen Gründen ein Übel, das eine fortschrittliche Gesellschaft überwinden musste. Regelmässige Arbeit, fester Wohnsitz, Schulbesuch der Kinder: So lauteten die Rezepte, um Randgruppen wie Fahrende oder Jenische in die sesshafte Gesellschaft zu integrieren. Durchgesetzt wurden sie mit einer Mischung aus Hilfe und Zwang – etwa mit dem «Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse» von Pro Juventute.

Erst verjagt, dann eingebürgert

Bis ins 19. Jahrhundert fanden so genannte Betteljagden statt mit dem Zweck, Arme und Fahrende möglichst vom eigenen Gemeindegebiet zu vertreiben. Zwischen 1849 und 1853 veranlasste die Bundesanwaltschaft, die Heimatlosen in einer landesweiten Polizeiaktion aufzuspüren, zu registrieren, zu fotografieren und zwangsweise einzubürgern. Die Unterlagen dazu – darunter die berühmten Aufnahmen des Berner Fotopioniers Carl Durheim – befinden sich im Bestand Polizeiwesen (1713-1975).

Interniert, registriert und ausgewiesen

Nach 1900 setzte sich die Annahme durch, dass das Vagabundieren eine erbliche Krankheit sei, ähnlich wie die Kriminalität. Mit solchen Vorurteilen begegnete man nicht nur den einheimischen, sondern auch den ausländischen Nichtsesshaften. 1906 sperrte der Bundesrat für sie die Grenzen und verbot den Bahn- und Schiffunternehmen, sie zu transportieren. 1913/14 liess das Justiz- und Polizeidepartement die ausländischen Sinti und Roma registrieren, internieren und aus dem Land weisen. Die Daten wurden in die zentrale «Zigeunerregistratur» eingetragen. Unter dem Nationalsozialismus wurden diese Menschen systematisch verfolgt und ermordet, doch blieb für sie die Schweizer Grenze geschlossen. Im Bestand Polizeiwesen (1713-1975) sowie in Teilbeständen der Eidgenössischen Polizeiabteilung (1841-1991) befindet sich ein Grossteil der Unterlagen zur schweizerischen Politik gegenüber den Sinti und Roma. Die zentrale «Zigeunerregistratur» existiert hingegen nicht mehr.

Die «Kinder der Landstrasse»

Zwischen 1926 und 1972 finanzierte und führte die private Fürsorgestiftung «Pro Juventute» ein Programm zur Umerziehung fahrender oder jenischer Kinder in der Schweiz durch. Die Stiftung richtete dazu das «Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse» ein. Umerziehung bedeutete, dass die Kinder und Jugendlichen ihren Familien weggenommen und in Heimen oder bei Pflegeeltern versorgt wurden. Häufig kamen vormundschaftliche Massnahmen zur Anwendung: Den Eltern wurde die elterliche Gewalt entzogen, um die Kinder kümmerte sich ein Vormund. In der Zwischenkriegszeit wurden in der Schweiz viele Kinder fremdplatziert, bei den jenischen Familien geschah dies systematisch. Viele «Kinder der Landstrasse» und auch deren Eltern wurden in Arbeitserziehungs- und Strafanstalten oder in psychiatrische Kliniken gesteckt.

Bund, Kantone und Gemeinden sowie Fürsorgeinstitutionen, Heime und Privatpersonen duldeten und unterstützten dieses Programm. Zwar gab es vereinzelt Kritik oder Widerstand. Aber erst eine Kampagne der Zeitschrift «Schweizerischer Beobachter» führte 1973 zur Auflösung des «Hilfswerks». Seither kämpfen Betroffene und deren Angehörigen um Wiedergutmachung und um die Anerkennung der Anliegen der Fahrenden. 1986 entschuldigte sich Bundespräsident Alphons Egli bei den Betroffenen für die Unterstützung, die der Bund dem «Hilfswerk» gewährt hatte.

1987 übernahm das Schweizerische Bundesarchiv die Unterlagen des Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse (1855-1989) von der Pro Juventute. Sie enthalten rund 120 Familien- und 800 Personendossiers, wobei zu einer Person mehrere Dossiers vorhanden sein können. Die Personendossiers beinhalten Entscheide von Vormundschaftsbehörden, Abrechnungen zu Mündelvermögen, Adoptionsurkunden, Korrespondenzen mit Heimen und Behörden, Briefe der oder an die Mündel, Ausweisschriften und teilweise Fotos. Daneben finden sich in diesem Bestand Gönnerkarteien, Buchhaltungsunterlagen, Jahresberichte, Zeitungsausschnitte und Tagungsdokumentationen.

Neben diesem umfangreichen Bestand existieren Unterlagen der Aktenkommission Kinder der Landstrasse (1928-1993) sowie der Stiftungsaufsicht des Eidgenössischen Departements des Innern (1915-1946).

2010 übernahm das Bundesarchiv zudem eine Auswahl von 92 Personendossiers des Seraphischen Liebeswerks Solothurn (1928-2010), die Personen aus nicht sesshaften Familien betreffen. Wie die Pro Juventute betreute das «Seraphische Liebeswerk» Kinder aus solchen Familien. Von den übrigen Zweigstellen des Liebeswerks bewahrt das Bundesarchiv derzeit keine Unterlagen auf.

Tipps zur weiteren Recherche

  • Staatsarchive der Kantone sowie Archive von Städten, Gemeinden und Bürgergemeinden (insbesondere in Polizei-, Fürsorge- und Vormundschaftsakten): Umfangreiches Material zur Armen- und Vormundschaftspolitik, die Gemeinde- und Kantonssache ist. Bitte beachten: Polizei-, Fürsorge- und Vormundschaftsakten unterstehen besonderen Schutzfristen.
  • Staatsarchiv Luzern: Unterlagen im Zusammenhang mit dem «Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse» im Depositum des katholischen Kinderhilfswerks «Seraphisches Liebeswerk Luzern».
  • Stiftung «Zukunft für Schweizer Fahrende»: Website mit Themenbeiträgen zur Geschichte der Fahrenden bis in die jüngste Vergangenheit.
  • Stiftung Naschet Jenische: Beratung und Betreuung der Opfer des «Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse» sowie Unterstützung der Betroffenen bei Fragen zur Akteneinsicht.
  • Radgenossenschaft der Landstrasse: Dachorganisation der Jenischen in der Schweiz.
  • Nationales Forschungsprogramm 51 «Integration und Ausschluss»: Geschichte der Jenischen, Sinti und Roma in der Schweiz in einigen Forschungsprojekten zum Thema «Konstruktion von Identität und Differenz».
  • Pro Juventute Schweiz: Informationen zur Stiftungsgeschichte.

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