Nationalpark: Mit dem Steinbock gegen die Industriekultur

Der Schweizer Nationalpark ist eine Erfolgsgeschichte. Seine Gründung war aber umstritten. Die Wiederansiedlung des Steinbockes half, die Kritik am Naturschutz zu besänftigen. Anders beim Bär: Noch 1914 hatte sich der Naturschutzbund „verpflichtet, für den sofortigen Abschuss zu sorgen“, sollte er wieder auftauchen.

"Mit ihrem stillen Wirken unterliegt die Natur der fortschreitenden Kultur. Ihre Netze werden durch die Gewaltsamkeit der Technik roh zerrissen, der liebliche Schmuck der einsamsten Berge und Täler wird durch barbarische Rücksichtslosigkeit zermalmt..."

So pathetisch argumentierte der Basler Naturforscher Paul Sarasin, der vor dem Ersten Weltkrieg eine Idee aus den USA propagierte: Reservate sollten der Industriealisierung auch in der Schweiz Grenzen setzen. In den Alpen und in anderen abgelegenen Gebieten, sollte das neue, in der Stadt geborene Konzept des Naturschutzes realisiert werden. Im Unterengadin wollten die Protagonisten „ein Stück Naturwirken hervorzaubern, wie es noch vor Ankunft des Menschen die Alpenwelt als ein unberührtes Naturheiligtum geschmückt hatte". Sinnbild dafür sollte unter anderem der Steinbock werden.

Ein Bund für die Natur

Die Wahl für dieses Kunststück fiel auf ein wenig bewirtschaftetes Tal in der Gemeinde Zernez in Graubünden. Der neu gegründete Schweizerische Bund für Naturschutz (SBN), die heutige Pro Natura, sollte mit Hilfe der Öffentlichkeit die Pacht für das Tal aufbringen. Obschon bis 1910 rund 12‘000 Personen mitmachten, reichte das Geld nicht aus. Die einflussreichen Gründer schalteten deshalb den Bundesrat ein. Dieser konnte das Parlament schliesslich mit einem Rückgriff auf naturwissenschaftliche Argumente überzeugen, die Kosten zu übernehmen.

Dies gelang, obwohl viele Nationalräte mit Naturschutz (noch) nichts anfangen konnten: „Die Herren [vom Naturschutz] bedauern ja nur, dass man nicht noch grössere Gebiete präsentieren kann, wenn möglich das halbe Land oder das ganze unter Umständen" (Heiterkeit im Saal). Andere stiessen sich am Aufwand insbesondere für die Wiederansiedlung des Steinbockes: „Schon in mehreren Staatsrechnungen wurden 4‘000 Franken für diesen Zweck aufgeführt und im Budget für 1914 sind es wieder 4‘000 Fr. Das ist jedenfalls teuer genug!" Zum Vergleich: Für „Jagd und Vogelschutz" gab der Bund jährlich insgesamt 28‘000 Franken aus. Was zu keinen Diskussionen Anlass gab. Weshalb die Steinböcke so teuer waren, sprach sich erst später herum (vgl. unten). Am Schluss überzeugte das Argument der Vorsorge: „Man gibt grosse Summen aus, um den Wald im Hochgebirge zu schützen, und so soll man auch einen gewissen Betrag ausgeben, um die Pflanzen- und Tierwelt in jenem herrlichen Winkel des Engadin zu pflegen." Die Eidgenossenschaft habe mit ihren Mitteln schon „schlechteren Gebrauch gemacht als diesen".

Ein Park für die Schweiz

Am 1. August 1914 wurde dann auf Beschluss des Parlaments der erste Schweizer Naturpark eröffnet. Die Oberaufsicht hatte die Eidgenössische Nationalparkkommission, deren Unterlagen im Bundesarchiv zu finden sind, der Naturschutzbund übernahm den Betrieb. Der Park wurde in den nächsten Jahren von 100 km² auf 170 km² erweitert. Die Wiederansiedlung von Tieren und die wissenschaftliche Beobachtung wurden zentrale Aktivitäten und von der Schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft übernommen.

Neue alte Tiere für den Park

Der Steinbock zum Beispiel war schon Mitte des 17. Jahrhunderts aus Graubünden verschwunden. Vor allem der Glaube an die heilsame Wirkung seiner Hörner war ihm zum Verhängnis geworden. In Italien hatten um 1900 einige Dutzend Tiere in Gran Paradiso, dem privaten Jagdrevier des italienischen Königs Vittorio Emanuele III, streng bewacht, überlebt. Bürger aus der Schweiz baten den König vergeblich um ein paar Exemplare für die Wiederansiedlung. Schliesslich halfen Wilderer: Gabriele Bérard und sein Sohn Giuseppe lieferten Kitze für je 1‘000 Franken. Später verschenkte Benito Mussolini, der in Lausanne studiert hatte, der Schweiz einige Exemplare. Aus einem Zuchtprogramm in St. Gallen konnten dann sukzessive Tiere in den Nationalpark ausgewildert werden. Dank der Aufzucht leben heute in der Schweiz wieder 16‘650 Steinböcke - im ganzen Alpenbogen sind es rund 40‘000 Tiere.

Heute gilt die Gründung des Nationalparks rundum als Erfolgsgeschichte. Nach diesem Muster wurden in den letzten Jahren denn auch weitere regionale Naturpärke eingerichtet. Die Grundidee dahinter ist die Gleiche geblieben: Der Natur und damit dem Steinbock und anderen bedrohten Tierarten soll gegen die industrielle Kultur zu Lebensraum verholfen werden. Aber dafür braucht es Platz - und den beansprucht auch der Mensch. Der Konflikt manifestiert sich vor allem bei Raubtieren: Noch 1914 hatte sich der Naturschutzbund „verpflichtet, für den sofortigen Abschuss zu sorgen", sollte der Bär, wie 10 Jahre zuvor, wieder auftauchen. Es wird sich zeigen, ob die damals wie heute symbolisch aufgeladene Rückeroberung von Lebensraum durch die Natur - zum Beispiel durch Bär und Wolf - in der Schweiz gelingen wird.

J2.143#1996/386#1123#6*, 50-Jahre Nationalpark
Schweizerische Filmwochenschau, 02.10.1964

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