Stärkung des Bundesstaats und politische Radikalisierung

Am 3. August 1914 erhielt der Bundesrat von der Vereinigten Bundesversammlung unbeschränkte Vollmachten zur Behauptung der Unabhängigkeit und Neutralität des Landes. Dieses Vollmachtenregime gab ihm unter anderem das Recht, direkt in die Wirtschaft einzugreifen. Gemäss seinem liberalen Credo scheute er davor zurück, die Wirtschaftsfreiheit zu sehr zu beschränken. Dennoch übernahm der Bundesstaat im Verlauf des Kriegs neue Aufgaben. Der staatliche Interventionismus nahm zu.

Staatsfinanzen und neue Steuern

Der Krieg verursachte auf allen Ebenen des Staatswesens (Bund, Kantone, Gemeinden) enorme Kosten. Durch die Ausgabe von Anleihen stieg die Schuld des Bundes bis Kriegsende deutlich an. Der Staat sah sich gezwungen, neue Steuern zu erheben. Zur Deckung der Mobilisierungskosten stimmte das Schweizer Volk ein Jahr nach Kriegsausbruch erstmals einer einmaligen direkten Bundessteuer zu. Doch dabei blieb es nicht. Ab 1917 erhob der Bund eine Kriegsgewinnsteuer, ab 1918 eine Stempelsteuer. Die Einführung einer dauernden direkten Bundessteuer wurde aber im Juni 1918 in einer Volksabstimmung abgelehnt.

Informationen zu Staatsfinanzen und Steuern finden sich in erster Linie in den Beständen Finanzwesen (1822-1925), Eidgenössische Finanzverwaltung (1849-2003) und Eidgenössische Steuerverwaltung: Wehropfer und Wehrsteuer (1915-1991). Zur Kriegsgewinnsteuer gibt es einige wenige Dossiers im Bestand Eidgenössische Steuerverwaltung: Direktion (1886-1991). Wichtig sind auch die Bestände der Finanzkommissionen und Finanzdelegation der Bundesversammlung (1903-1992) sowie die Bundesratsprotokolle.

Sozialer und wirtschaftlicher Interventionsstaat

Zur Bewältigung der kriegswirtschaftlichen Aufgaben wuchs die Bundesverwaltung beträchtlich. Der Staat wurde gegenüber der Wirtschaft stärker. Neue Behörden wie die Abteilung für industrielle Kriegswirtschaft (1904-1932), das Eidgenössische Fürsorgeamt (1912-1926) oder das Eidgenössische Brotamt (1917-1918) entstanden. Das Eidgenössische Handelsdepartement wurde zum Volkswirtschaftsdepartement. Die Zahl der Angestellten der allgemeinen Bundesverwaltung nahm von gut 8000 im Jahr 1913 auf über 12 000 gegen Kriegsende zu.

Durch den Krieg nahm die Bedeutung des Bundesstaats zu. Der Bundesstaat begann, in die wirtschaftlichen Kreisläufe einzugreifen und bemühte sich, soziale Massnahmen zugunsten der armen Bevölkerung zu ergreifen. Damit war der Krieg der Auslöser für die spätere Entwicklung zum sozialen und wirtschaftlichen Interventionsstaat. Allerdings reagierte der Bundesrat auf die Herausforderungen der Kriegswirtschaft nicht mit einer umfassenden Wirtschafts- und Sozialpolitik. Die bundesstaatlichen Massnahmen blieben punktuell und erfolgten oft zu spät. Zum Beispiel wurde die Lebensmittel-Rationierung erst 1917 eingeführt. Besonders in der Sozialpolitik hielt sich der Bund zurück und überliess die Verantwortung den Kantonen.

Zur Kriegswirtschaft gibt es in verschiedenen Beständen Unterlagen, so etwa in Eidgenössische Getreideverwaltung (1906-1992), Sekretariat des eidgenössischen Volkswirtschaftsdepartements: Teilregistratur Kriegswirtschaft Erster Weltkrieg (1904-1932), Justizwesen (1798-1985) und Generalsekretariat des eidgenössischen Volkswirtschaftsdepartements (1887-1967).

«Soziale Frage» und Landesgeneralstreik

Die zögerliche Wirtschaftspolitik des Bundesrats hatte zur Folge, dass sich einzelne Wirtschaftszweige bereichern konnten. Auf der anderen Seite litt ein grosser Teil der Bevölkerung unter der krisenhaften Landesversorgung mit lebensnotwendigen Gütern. Vor allem die Arbeiterschaft war von der ungleichen Verteilung der Lasten betroffen.

Zu Beginn des Kriegs hatte die Arbeiterbewegung in einen Burgfrieden mit den bürgerlichen Parteien eingewilligt. Die Hoffnungen auf eine staatliche soziale Vorsorge und nationale Solidarität erfüllten sich jedoch nicht. Die politische Ausgrenzung und die Verschlechterung der Lebensbedingungen führten zu einer Radikalisierung der Arbeiterbewegung. 1916 kam es unter massgeblicher Beteiligung von Frauen zu ersten städtischen Hungerunruhen. Der oppositionellen Arbeiterbewegung standen Bürgertum und Bauernschaft gegenüber, die stark von bürgerlich-nationalistischen und reaktionären Überzeugungen geleitet waren. Im Herbst 1918 eskalierte die Lage. Gegen den von der Arbeiterschaft ausgerufenen Generalstreik setzte der Bundesrat die Armee ein. Beim Ordnungseinsatz in Grenchen erschossen die Soldaten drei Streikende. Am 14. November kapitulierte das Oltener Aktionskomitee um den sozialdemokratischen Politiker Robert Grimm, das den Generalstreik organisiert hattet, bedingungslos.

Unterlagen zum Generalstreik von 1918 und zu den Truppeneinsätzen befinden sich sowohl im Bestand Landesverteidigung (1600-1960) als auch im Bestand Polizeiwesen (1713-1975). Dort wird auch eine Sammlung der wichtigsten Drucksachen und Dokumente zum Generalstreik aufbewahrt. Ebenfalls von Bedeutung sind die Protokolle von Bundesrat und Parlament aus den Jahren 1914-1918 sowie die Privatarchive des Generals Ulrich Wille (1896-1925) und des Oberstdivisionärs und späteren Generalstabschefs Emil Sonderegger (1888-1975), der im November 1918 in Zürich das Kommando über die aufgebotenen Truppen hatte. Die Sicht der Arbeiterschaft ist im Privatbestand des sozialdemokratischen Politikers Robert Grimm (1893-2000) dokumentiert.

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